wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Sie erinnern sich? Ja, wer kennt es nicht, das berühmte Begehren der Königin. Worauf will uns die Frage hinweisen? Auf unsere Eitelkeit, unseren Hochmut oder unseren Narzissmus? Vielleicht. Ich frage mich: Was passiert eigentlich, während ich in einen Spiegel schaue? Was ist und was macht denn ein Spiegel? Und: Wofür ist er gut?
Morgens im Bad, mein erster Blickkontakt mit mir. Erste Wiedersehensfreude – oder Vorwürfe ob der verblassten Schönheit? So oder so: Ich bring mich in Form, ich will gut dastehen. So beschreibt es ein Freund gern im Kommunikationstraining.
Ich gehe in den Garten. Die Sonnenblumen richten ihre Blüten nach dem Stand der Sonne. Und auch die Tulpen und viele andere scheinen ihre grazile Blüte nur dem Licht zeigen zu wollen, nachts verschließen sie sich. Auch die Natur scheint in den Spiegel zu schauen.
Dann im Vergnügungspark: Ein Spiegel, der extrem verzerrt, was sich vor ihm zeigt. Wir werden klein und dick oder lang und dürr, ebenso, wie der Spiegel es will: eine amüsante Karikatur, aber die Finte ist offensichtlich.
In der Psychotherapie spricht man auch vom Spiegeln. Dann versucht der Therapeut, dem Klienten dessen Gedankenmuster und Verhaltensweisen zu verdeutlichen. Eine ganz besondere Variante davon beschreibt Michael Ende in seinem Buch Momo:
[…] Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.
So konnte Momo zuhören! […]
Ein Mensch richtet sich im Spiegel eines anderen auf. Sind Spiegel verbreiteter, als ich bisher annahm?
Ich lese ein Buch. Aber sehe ich mich nicht selbst, wie ich auf den Pfaden des Protagonisten wandle? Ich höre Musik. Aber beobachte ich währenddessen nicht auch meine ganz eigenen Gedanken und Gefühle? Ich stehe vor einem Gemälde. Aber entdecke ich nicht gerade auch den Teil in mir, der sich auf einen ganz bestimmten Eindruck fokussiert?
Der Film ‚The Power o the Heart’ beginnt mit einer alten japanischen Parabel, in der ein verzweifelter Krieger eine alte, weise Frau aufsucht und fragt: „Gibt es einen Himmel und eine Hölle? Ich muss es wissen! So viele von uns wurden ermordet, für sie hoffe ich, dass es einen Himmel gibt. Aber auch ich habe so viele Menschen umgebracht, dass ich für mich bete, dass es keine Hölle gibt!“ Sie antwortet: „Warum sollte ich meine Weisheit für einen so herzlosen Feigling vergeuden!“ Als der Krieger, in seiner Ehre verletzt, das Schwert gegen die Alte erhebt, erklärt sie: „Das ist die Hölle!“ Daraufhin kommen dem Krieger die Tränen, er erkennt seine Bosheit, und sie fügt hinzu: „Und das ist der Himmel!“ Der Krieger hat in dem Spiegel der alten Weisen sogar Himmel und Hölle in sich erkannt.
Ein Onkologe soll seine Patienten nackt in ein Zimmer mit einem Spiegel geschickt haben. Die Aufgabe: Kommen Sie erst wieder raus, bis Sie voller Überzeugung sagen können: „Ich liebe mich.“
Was auch immer zum Vorschein kommen möchte, ich bin mir sicher, es lohnt sich in jedem Fall, genau hinzuschauen. Welche Spiegel Sie auch antreffen, allzeit die besten Ein- und Ausblicke wünscht
Andree Gauer